Anwendung von Jugendstrafrecht bei Heranwachsenden

Ob bei einem heranwachsenden Angeklagten noch Jugendstrafrecht oder „schon“ das Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, ist schon wegen der unterschiedlichen Strafrahmen eine wichtige Frage.

Kinder, Jugendliche, Heranwachsende

Personen, die jünger als 14 Jahre sind, gelten im Strafrecht als Kinder. Kinder gelten als schuldunfähig, wie § 19 Strafgesetzbuch (StGB) festlegt. Die Schuldunfähigkeit ist ein Verfahrenshindernis, so dass gegen Kinder keine Strafverfolgung stattfindet – sie sind nicht strafmündig.

Jugendliche sind Personen, die zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Straftat zwischen 14 und 17 Jahren alt waren. Sie sind strafmündig. Für sie wurde das Jugendstrafrecht geschaffen und folglich ist auf sie gemäß § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) ausschließlich das Jugendstrafrecht anwendbar,

Grundsätzlich ist es möglich, auch bei Heranwachsenden, also Personen die schon erwachsen aber noch nicht 21 Jahre alt sind, das Jugendstrafrecht anzuwenden. Das gilt allerdings nicht für alle Normen des Jugendstrafrechts, sondern nur für die, auf die die §§ 105 ff. JGG verweisen.

Gleichstellung von Heranwachsenden mit Jugendlichen – „Reifeverzögerung“

In § 105 JGG ist festgelegt, unter welchen Umständen die Regeln des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende angewendet werden. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht ist, ob der Entwicklungsstand des Heranwachsenden zur Tatzeit dem eines jugendlichen Täters entspricht oder ob es sich bei der zu beurteilenden Tat nach ihren Umständen oder Beweggründen um eine jugendtypische Tat, eine Jugendverfehlung, handelt.

Der Reifestand des Heranwachsenden ist durch eine Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit und seiner sittlichen oder geistigen Entwicklung festzustellen. Dabei kommt es auf den Stand der Reife an, der im Zeitpunkt der Begehung der vorgeworfenen Tat vorgelegen hat. Wird als Ergebnis dieser Würdigung eine Reifeverzögerung festgestellt, ist der Heranwachsende strafrechtlich einem Jugendlichen gleichzustellen.

Feststellungen zum Entwicklungsstand im Jugendstrafverfahren

Der Entwicklungsstand des Heranwachsenden ist eine der entscheidenden Fragen in dem gegen ihn geführten Strafverfahren. Das Gericht muss also für die oben genannte Gesamtabwägung den heranwachsenden Angeklagten kennenlernen, seine Persönlichkeit erforschen, um seinen Entwicklungsstand feststellen zu können. Das Gericht bedient sich dabei der Jugendgerichtshilfe, die den Angeklagten dazu vor der Hauptverhandlung zu einem Gespräch einlädt. Ziel dieses Gesprächs ist es, den Angeklagten, sein familiäres und soziales Umfeld und seine persönliche Lebenssituation kennenzulernen.

Sollte das Gericht feststellen, dass der Angeklagte beispielsweise eine gewisse Lebensplanung, die Fähigkeit zu selbstständigem Urteilen und Entscheiden, eine Kompetenz zu zeitlich überschauendem Denken, die Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen, eine ernsthafte, verantwortungsbewusste Einstellung zur Arbeit oder gewisse Eigenständigkeit zu Gleichaltrigen, den Eltern oder einem Partner hat, spricht dies dafür, dass er eher einem erwachsenen Täter als einem Jugendlichen gleichzustellen ist.

Als jugendtypische Merkmale, die annehmen lassen, der Heranwachsende sei von seinem Reifegrad her eher einem Jugendlichen als einem Erwachsenen gleichzustellen, gelten unter anderem die ungenügende Ausformung seiner Persönlichkeit, Hilflosigkeit (oft versteckt hinter Trotz und Arroganz), ein naiv-vertrauensseliges Verhalten, kurzsichtiges im Augenblick leben, eine starke Anlehungsbedürftigkeit, eine spielerische Einstellung zur Arbeit, die Neigung zum Tagträumen, ein Hang zu abenteuerlichem Handeln, ein Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen und ein mangelhafter Anschluss an Altersgenossen.

Bleiben nach den Feststellungen des Gerichts zum Entwicklungsstand des Heranwachsenden Zweifel daran, dass er den Reifestand eines Erwachsenen bereits erreicht hat, muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof Jugendstrafrecht angewendet werden.

Jugendverfehlungen

Neben der dargestellten Reifeverzögerung ist Jugendstrafrecht auch dann anzuwenden, wenn es sich bei den vorgeworfenen Taten um jugendtypische Verfehlungen handelt § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG. Während bei der Frage nach der Reifeverzögerung der Heranwachsende als Täter in den Blick genommen wurde, wird hier die Tat betrachtet. Es kommt allerdings zu Überschneidungen, denn auch hier ist notwendig, die äußeren Umstände der Tat und die Beweggründe des Täters mit in die Bewertung einzubeziehen.

Die Rechtsprechung geht von einer Jugendverfehlung aus bei Taten, die schon objektiv, also nach ihrem äußern Erscheinungsbild, Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen. Ebenso liegt eine Jugendverfehlung vor, wenn die Beweggründe der Tat und ihre Veranlassung Zeichen jugendlicher Unreife sind. Eine Jugendverfehlung kann daher grundsätzlich jede Tat sein, bei der der Einfluss allgemeiner Unreife des Heranwachsenden als Ursprung ausgemacht werden kann.

Jugendtypisches, unreifes Verhalten ist nach der Rechtsprechung gekennzeichnet von einem Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen, von Leichtsinn, falsch verstandener Freundschaft, fehlender Beherrschung und Widerstand gegen jede Autorität. Es liegt auf der Hand, dass damit auch Verbrechen wie Mord, Totschlag und nicht zuletzt Raub und Vermögensdelikte Jugendverfehlungen sein können, die die Anwendung von Jugendstrafrecht nach sich ziehen.